Tatjana Dattschenko
Zu den wichtigsten Ereignissen aus dem Jahre 1922 gehoert laut Bertelsmanns Chronik
der Weltgeschichte die Geburt eines Romans, der die moderne Belletristik begruendete:
am 1.9.1922 erschien die zensierte Fassung der vollstaendigen Ausgabe des Ulysses
vom irischen Schriftsteller James Joyce (1882-1941). Am 1. Februar 2009 fand in Moskau
eine wahrscheinlich wegweisende, zweifelsohne langerwartete Premiere statt. Eben
nach dem weltbekannten stilbildenden Roman und in einer Theaterwerkstatt, die seit
ihrer Gruendung
1993 Experimente und Traditionen des russischen Repertoiretheaters erfolgreich in
Einklang bringt, naemlich am Fomenko-Studio.
Wenn James Joyce sieben Jahre an Ulysses arbeitete, brauchte der Regisseur Jewgenij
Kamenkowitsch lange zehn Jahre, bis sein Vorhaben, den Text von Joyce auf die Bretter
zu bringen, in Erfuellung ging. An die Proben wagte sich der Kamenkowitsch, erst
nachdem er 2006 den Roman Das Venushaar des russisch-schweizerischen Schriftstellers
Michail
Schischkin unter dem Titel Das Wichtigste triumphal inszenierte und danach vom kuenstlerischen
Studio-Leiter Pjotr Fomenko mit den Worten Ran an Joyce zu Ulysses inspiriert
wurde.
Ulysses ist ein beruehmter Roman, ungewoehnlich und schwer zu lesen. Das ist wohl
allbekannt, steht im Theaterzettel. Mit staendigen Reminiszenzen an Mythologie, Geschichte,
Theaterwesen. Bei Kamenkowitsch entsteht eine neue Theaterart, etwa ein audiovisuelles
Theater-Buch: eine musikalische Sound-Komposition mit eigenartigem Licht, plastischen
Bewegungen und markanten Szenen.
Die Buehnenbilder (Metall und grau-braune Seide) von Wladimir Maximow tragen zum
einheitlichen Bild wesentlich bei. Als wichtiges Element der Szenerie gilt die Uhr,
denn im
Roman wird in 18 Episoden, die Homers Odyssee (auf Englisch: Ulysses)
entsprechen,
stundenweise ein Tag der 16.6.1904 (Bloomsday) aus dem Leben des Annoncenakquisiteurs
Leopold Bloom (Anatolij Gorjatschew), eines Juden im katholischen Dublin, und einiger
Dubliner zeigt.
Kamenkowitsch Entscheidung fuer Ulysses ist anscheinend u.a. dadurch zu erklaeren,
dass er eine ideale Schauspielerin fuer die Rolle von Molly (Blooms Ehefrau) im Auge
hatte seine eigene Frau Polina Kutepowa. Die rothaarige Stardarstellerin kann den
beruehmten sensuellen Molly-Monolog im Schlusskapitel Penelope die Verquickung von
Erotik und Trauer in atemberaubender Weise vortragen, wohl wie keine andere Kuenstlerin.
Das Theaterteam versuchte, James Joyce moeglichst uebersichtlich zu praesentieren
mit den Titeln zu jeder Episode im Hintergrund der Buehne und ausfuehrlicher Information
im Theaterprogramm. Die Inszenierung, die nur am Wochenende aufgefuehrt wird, dauert
beinahe sechs Stunden.